Am dritten Wettbewerbstag wurde der Jurypreis /// Das lange brennende Mikro für Hörstücke von 20 bis 60 Minuten Länge vergeben. Die vierköpfige Fachjury erkannte den mit hochwertigen Lautsprechern von Neumann.Berlin dotierten Preis dem künstlerische Feature „Wasserspuren“ von Anja Penner zu, das nach einem Theaterstück der Gruppe „unitedOFFproduction“ entstanden war. Knapp dahinter platzierte sich das stimmlich raffiniert inszenierte Stück „Monte Velho“ von Jan Bolender über selektive Taubheit. Auf dem dritten Platz landete das O-Ton-Feature „Ob Dach oder Los“ von Andreas von Stosch über zwei Menschen, die die Freiheit der Wohnsitzlosigkeit schätzen.
/// Wasserspuren / 33:15
von Anja Penner / unitedOffProductions
Menschen fliehen nicht nur vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit, sondern immer öfter auch aufgrund von Wasserknappheit. „Wasserspuren“ entstand in Zusammenarbeit mit jungen, geflüchteten Menschen aus Syrien, Simbabwe und dem Kongo. Erzählungen aus verschiedenen kulturellen Kontexten, aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Sehnsucht und Realität werden collagiert mit Expertenberichten – theoretisches Wissen mit gefühltem Wissen.
/// Monte Velho / 36:07
von Jan Bolender
Daniela, 52, leidet unter einer speziellen Form des Hörverlustes. In behutsamen Interviews versucht sich der junge Essayist einer esoterischen Wochenzeitschrift der sozial isolierten Frau zu nähern und ihr Problem psychologisch zu deuten. Doch während ein Erklärungsansatz nach dem anderen ins leere läuft, gerät der junge Mann selbst in eine seelische Krise und muss …
/// Ob Dach oder Los / 52:20
von Andreas von Stosch
Ob Dach oder Los? Darüber reflektieren die beiden Protagonisten Boris und Karlito aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven; Boris hat auf der Straße gelebt, Karlito möchte es ausprobieren und macht sich sehr eigene Gedanken darüber. Eine ideologisch geprägte Sicht ist der Lebenserfahrung eines Menschen gegenübergestellt, der nicht wusste wohin.
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/// Autonomaten / 56:30
von Ruth Schultz und Kai Niggemann (Paradeiser Productions)
Autonome Automaten. Künstliche Intelligenz. Maschinen, Menschen und der Freie Wille: Auf der Bühne: Menschen und Apparate. Im minimalen Aufbau mit Kabelchaos entsteht ein mechanisches Musik-Märchen. Die Automaten zwitschern und switchen autonom:
I am not even present. I am already future. So entstehen Klanglandschaften und Situationen
zwischen Vogelbeobachtung und utopischem Entwurf.
Die musikalischen Themen sind Glanz und Abglanz, Rauschen und Sinuston, Abgesang und Lobpreis. Mit Synthesizern, DIY-Klangtisch und Looper folgen die Autonomaten der Nachtigall in die unendlichen Weiten der möglichen Reproduzierbarkeit und schauen sich dort gründlich um. Sie suchen eine andere Welt mit allen Mitteln das Freie in der Natur der Obsession. Auch in Deiner. Woher kommt diese Faszination? Und wie sähe ein Schritt zurück zu den Ursprüngen aus…?
/// Das harte Paket / 22:56
von Johann Otten und Marvin Ester
Wiebke steht kurz vor ihrer Promotion und kauft eine neue Tür im Baumarkt. Ohne es zu wissen, wird sie dabei beobachtet und ein ominöser Helfer stellt sich als Komplize einer Show heraus, die nur für sie hinter der neuen Tür stattfindet. Grundidee von „Das harte Paket“ ist die Auseinandersetzung mit affirmativen Unterhaltungsformaten, Prekariat trotz vorhandener Ausbildung und der fatal zunehmenden Inszenierung von Leid in öffentlich-rechtlichen Programmen. „Ziel ist es, ein Klima von Unwägbarkeiten zu schaffen – hervorgerufen durch Eskalation, Prügeleien, spontanes Verlassen der Szene –, das sich auf die Zuschauer überträgt.“
/// Singvogeldichte & Morsecodegefichte / 54:06 von Andreas O. Hirsch und Volker Hennes
QRVO1, seines Zeichens begeisterter Funkamateur, ist von der Idee besessen, es handle sich bei Vogelrufen um per Morsecode verschlüsselte Botschaften. Über Funk lernt er den Biologen Prof. Dr. Niemann kennen, der der Sache zwar skeptisch gegenüber steht, QRVO1 jedoch bereitwillig mit Fachinformationen versorgt und auch die Verbindung zu einer IT-Expertin, Frau Dr. Pagitzsch herstellt. Diese wittert schon bald ihre Chance, unvollendete Forschungen zu schwarmgesteuerten Supracodes wieder aufzunehmen … Ein groteskes Kammerhörspiel mit überraschendem Finale.
/// Taunusblick / 42:00
von Marisa Wendt
Ein unzufriedener Designer hat nach einem Autounfall auf nebliger Landstraße eine unheimliche Begegnung mit einer noch unheimlicheren Tankwartin. Mit verschiedensten Mitteln der Verführung versucht sie zu ergründen, welcher Wunsch in diesem Menschen so stark ist, dass er dafür seine Seele geben würde. Aber gibt es einen solchen Wunsch überhaupt? Was lauert im Hinterzimmer? Wo ist der Ausgang aus der Waschanlage? Und wo zum Teufel steckt der angefahrene Hirsch?
/// Das lange brennende Mikro
des 10. Berliner Hörspielfestivals 2019
Die Begründung der Jury
Zu Beginn der Welt schwebte der Geist Gottes über den Wassern des Tohuwabohus. Schon bevor er am dritten Schöpfungstag das Meer von der trockenen Erde schied, hatte er die elektromagnetischen Wellen (als Licht) und den Himmel erschaffen. Seitdem verbreitet sich die elektromagnetische Strahlung im Universum und ihre Wellen sind genauso fluide und flüchtig wie die des Wassers, die ihr als metaphorische Grundlage dienen. Inzwischen ist viel passiert. Die Kirche hatte mit dem In-Zungen-Reden des Pfingstwunders das Radio erfunden und nur wenige tausend Jahre später hat auch der Mensch gelernt, wie man auf Trägerwellen Signale aufmoduliert und damit Information und Rauschen voneinander scheidet. Doch ein Problem bleibt, das der Flüchtigkeit: elektromagnetische wie Wasser-Wellen hinterlassen keine Spuren, sie sind die Spur.
Worauf und woran Spuren hinterlassen werden können, sind die Körper und die Gesichter der Menschen, die der Geschichte ausgesetzt sind und dadurch ihre Geschichten erleben. Geschichten, die sich in ihre Stimmen eingeprägt haben und die immer mehr erzählen als das eigentlich Gesagte. Hier erzählen sie Geschichten vom Wasser. Von dem Wasser, dass man unter Lebensgefahr überqueren muss, um dem Wassermangel in der Heimat zu entgehen, um dann in den Überflussgesellschaften anzukommen, die auf Flaschen gezogenes Regenwasser aus Tasmanien importieren. Mit großem Einfühlungsvermögen hat Anja Penner die Stimmen derjenigen inszeniert, die Erfahrungen mit Fluchtbewegungen gemacht haben und jetzt neue Erfahrungen mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit machen. Doch der Wassermangel folgt den Geflüchteten. Es lassen sich schon Anzeichen erkennen, dass der Mittelmeerraum zur Wassermangelregion wird, weil die Wüste die Straße von Gibraltar überqueren wird.
Zwischen Schöpfungsgeschichten, den nicht ohne Humor dialogisch erzählten Lebensläufen und kommentierenden Expertenstimmen wird ein akustisches Panorama aufgespannt. Dabei hinterlässt das Dokumentarische seine Spuren im Erzählerischen und ergibt so eine hybride Form zwischen Hörspiel und Feature. Außerdem treffen düstere Prognosen von Klimaforschern auf wasserbasierte Schöpfungsmythen. Ob die ‚Wasserstruktur des Körpers eines Menschen’ die gleiche sei, wie die seines Herkunftsortes mag man glauben oder nicht. Dass die Wasser- und Lebensläufe in der Biographie eine Menschen parallel verlaufen, mag man nach diesem Hörstück kaum mehr bezweifeln.
/// Das lange brennende Mikro des 10. Berliner Hörspielfestivals 2019 geht an: „Wasserspuren“ von Anja Penner nach dem Theaterstück „Wasser. Gesichter. Geschichten“ von unitedOFFproductions.
Die Jury: Natascha Gangl, Cornelia Klauß, Frank Kaspar, Jochen Meißner.
Wir danken allen Hörspielmacherinnen und -machern.